Die Koblenzer KMW im
Gespräch über Industrie 4.0
Von Petra Ritter-Mansfeld
Beschleunigte Innovationszyklen,
gestiegene Produkt- und Prozessansprüche, zunehmende Digitalisierung – deutsche
Unternehmen sehen sich immer komplexeren Anforderungen gegenüber. Als Lösung
auf diese und andere Aufgaben wird seit einiger Zeit von Politik und Verbänden
das Schlagwort Industrie 4.0 genannt. So hat die Bundesregierung inzwischen
über 200 Millionen Euro bewilligt, um die Produktion von morgen zu erforschen
und zu fördern.[i]
Und erst vor wenigen Wochen startete das Bundeswirtschaftsministerium gemeinsam
mit dem Ministerium für Bildung und Forschung sowie Wirtschaftsverbänden,
Gewerkschaften und Forschungsgruppen auf der HANNOVER MESSE 2015 die
„Plattform Industrie 4.0“. Im Fokus dieser Maßnahmen sollen die
Industrie, vor allem aber auch kleine und mittlere Unternehmen dabei
unterstützt werden, deutsche Ingenieurskunst mit IT-Kompetenz zu verknüpfen, um
so im globalen Wettbewerb die Hightech-Führung zu behalten.
In einer 2014 erschienen
BITKOM-Studie wird Industrie 4.0 als wesentlichen Treiber für Erhalt und Ausbau
der Konkurrenzfähigkeit deutscher Unternehmen gesehen.[ii]
Darüber machen sich auch Unternehmen am Mittelrhein Gedanken, wie zum Beispiel
die KMW GmbH & Co. KG. Das Koblenzer Unternehmen gehört als
Sonderanlagenbauer zum Bereich Maschinen- und Anlagenbau, einem
Wirtschaftszweig, dem von BITKOM im Hinblick auf Industrie 4.0 ein zusätzliches
Wertschöpfungspotenzial von 23 Milliarden Euro bis 2025 zugesprochen wird. „Wir
leben von der ständigen Weiterentwicklung“, sagt Wolfgang Olbrich, Gründer und
Geschäftsführer der KMW im Gespräch. „Insofern diskutieren wir derzeit intensiv
die Potenziale, aber auch die potenziellen Risiken, die sich für uns aus der
Industrie 4.0 ergeben.“
Mechanisierung – Massenproduktion – Automation –
Flexibilisierung
Der Begriff Industrie 4.0 steht
vereinfacht gesprochen für das Zusammenwachsen von Informationstechnologie,
Automatisierungstechnik und Software. Er markiert die vierte Stufe der
industriellen Revolution – einer Entwicklung, die vor über 200 Jahren ihren
Anfang nahm: Es war 1784, als der erste mechanische Webstuhl in Betrieb
genommen und die menschliche Muskelkraft weniger wichtig wurde. Nun konnte man
mithilfe von Wasser- und Dampfkraft mechanische Produktionsanlagen betreiben.
1870, ein knappes Jahrhundert später, wurde in den Schlachthöfen von Cincinatti
das erste elektrische Fließband und damit die arbeitsteilige Massenproduktion
eingeführt. Und wieder ein knappes Jahrhundert später, 1969, gab es eine
weitere bahnbrechende Entwicklung: Mit dem Modicon 084 stellte Richard Morley
ein Gerät vor, das auf digitaler Basis programmiert war und das man zur
Steuerung beziehungsweise Regelung einer Maschine oder Anlage einsetzen konnte.
Das war der Startschuss zur Automatisierung der Produktion. Arbeitsschritte,
die Menschen zuvor per Hand erledigt hatten, wurden jetzt von Maschinen
getätigt.
Die vierte und bislang letzte
große Entwicklung und der Anfang dessen, was wir heute mit Industrie 4.0
bezeichnen, begann mit einem Vortrag im Jahr 1999. Der Leiter des Auto-ID
Centers am MIT, Kevin Ashton, verwendete hier erstmals den Begriff
„Internet der Dinge“ („Internet of Things“) und entwickelte
eine Vision: Da die menschlichen Kapazitäten begrenzt seien und Menschen
insgesamt zu ungenau arbeiteten, sollten Computer die reale Welt begreifen
lernen und unabhängig vom Menschen Informationen beschaffen können. So sollten
über das Internet die Objekte miteinander kommunizieren. Dies ist heute durch
die Weiterentwicklung der IT, durch die globale Vernetzung und nicht zuletzt
durch die Entwicklung immer kleinerer Rechner ohne große Probleme machbar.
Das Internet der Dinge entsteht,
wenn die Cyberwelt auf die physische Welt trifft und Objekte
„intelligent“ werden. Dann ordert der Kühlschrank ohne unser Zutun
den Joghurt nach, und der Autozahnriemen vereinbart selbsttätig einen
Werkstatttermin, bevor sein Verschleiß kritisch wird. Möglich wird dies durch eingebettete
Kleinstcomputer, die an jedem beliebigen Alltagsobjekt angebracht werden
können. Dort erfassen sie Zustände und führen Aktionen aus. In einer smarten
Fabrik der Industrie 4.0 steuern Produkte ihren Bearbeitungsprozess selbst, und
das einzelne Werkstück teilt der Maschine mit, was mit ihm zu tun ist: Der
Rohling weiß, wann und wie er geschliffen werden muss, genauso, wie das
Ersatzteil seinen Bestimmungsort kennt und sich selbsttätig dorthin lotst. Mit
der Technologie der Massenproduktion können die Ansprüche der Einzelanfertigung
befriedigt werden – so werden Produkte und Dienstleistungen flexibler und individueller.
Vernetzte Daten sind der neue Rohstoff
Damit solche Prozesse
funktionieren können, braucht es Informationen in Form von Daten. Daten und
ihre durchgängige Vernetzung – das sind die Rohstoffe der Industrie 4.0. Daten
befinden sich auf Barcodes oder RFID-Chips, die auf der Oberfläche von Objekten
(z.B. Rohlingen, Werkstücken, Bauteilen) angebracht sind. Sie machen Objekte
„intelligent“, denn sie lassen sich von Computern oder Scannern auslesen und
online übermitteln. So kommunizieren smarte Objekte mit Maschinen oder Robotern
und sorgen dafür, dass diese sich für den jeweiligen Auftrag organisieren und
richtig agieren können. „Doch das ist nur ein kleiner Teil dessen, was
Industrie 4.0 tatsächlich ausmacht“, so Martin Olbrich, der Sohn des
Firmengründers und Prokurist des Unternehmens. „Tatsächlich können auf diese
Weise nicht nur Maschinen und Produkte, sondern auch Lagersysteme und
Betriebsmittel miteinander verbunden werden. Es ergeben sich vollkommen neue
und vor allem flexible Produktionsmethoden, wenn Informations- und
Kommunikationstechnologien eingebunden werden.“
In der Industrie 4.0 begreift man
Maschinen als Geräte, die über eine Software mit Logik ausgestattet sind. Die
Software erlaubt es, auf Befehle zu reagieren und Aufgaben selbständig zu
erfüllen. „Bislang sind viele Steuerungen noch so, dass sie verhältnismäßig
starr zwischen Sensorik und Aktorik gekoppelt sind“, führt Matthias Thieroff,
zweiter Geschäftsführer der KMW, aus. „Das heißt: Die Steuerung erfasst einen
von mehreren möglichen Zuständen und aufgrund des aktuellen Zustands reagiert
sie auf vorgegebene Weise. Wenn Sie hier jetzt Informations- und
Kommunikationstechnologien integrieren, dann kann Ihre Maschine mit anderen
Geräten oder Objekten in Kontakt treten. Damit erhalten Sie ein System, dass
Entscheidungen treffen und menschliche Fehlerquellen minimieren kann. In
unserem Bereich könnte das dann zum Beispiel so aussehen, dass wir eine unserer
Anlagen, die in China, Rumänien oder Brasilien stehen, von hier aus automatisch
überwachen und fernwarten. Und wenn dann ein Verschleißteil erneuert werden
muss, wird dessen Produktion direkt hier vor Ort angestoßen, ohne dass in China
jemand einen Bestellzettel ausfüllen muss.“
Geänderte Wertschöpfungsprozesse durch Industrie
4.0
Durch die netzwerkartige Nutzung
von Daten ist aber nicht nur eine echtzeitnahe Überwachung und Konfigurierung
von Anlagen machbar. Auch kundenintegriertes Engineering wird so möglich. Das
bedeutet dann, dass der Auftraggeber in die entwickelnden und planenden
Tätigkeiten des Unternehmens direkt eingebunden werden kann. „Eine unserer
letzten Anlagen für Webasto, einen großen Automobilzulieferer, ist durch kundenintegriertes
Engineering entstanden“, erzählt Wolfgang Olbrich. „Allerdings haben wir hier
noch größtenteils sehr viel vor Ort, Face-to-Face gearbeitet – was wir auch in
einem Industrie 4.0-Ambiente nicht aufgeben werden. Dazu ist uns der
persönliche Kontakt viel zu wichtig. Aber wir sehen auch, dass flexible und
informationsgetriebene cyber-physische Systeme Wertschöpfungsprozesse
transparenter machen und zu einer besseren Synchronisation aller Beteiligten
führen können.“
Dr. Olaf Sauer, Stellvertreter
des Institutsleiters Fraunhofer IOSB, beschreibt in einem Aufsatz zur
Zukunftsstrategie Industrie 4.0,[iii] die
Herausforderung, der sich Maschinen- und Anlagenbauer gegenübersehen: Sie
müssen wandlungsfähig sein. Und sie brauchen nicht nur eine Strategie, sondern
auch ein passendes Geschäftsmodell in Bezug auf neue internetbasierte
Dienstleistungen. Martin Olbrich von KMW meint hierzu: „Wir beobachten seit
längerem, dass Maschinen wertmäßig einen immer höheren Anteil von Software und
Automatisierung haben. Die Mechanikanteile nehmen vom Wert her gesehen
kontinuierlich ab. Jahrzehntelang hat uns die Mechanik vorangetrieben, jetzt
wird die Elektronik für uns den nächsten Schritt machen. Und dazu müssen wir
unser Wissen aus den automatisierten Prozessen am Rechner nachmodellieren.“
Für riesige Datenmengen braucht man Schnittstellen,
Standards und Sicherheit
Wenn Produkte, Systeme und
Maschinen miteinander kommunizieren, entstehen riesige Datenmengen, die
analysiert und miteinander vernetzt werden können. „Doch dafür brauchen wir
einheitliche Schnittstellen und Standards“, sagt der KMW-Geschäftsführer
Wolfgang Olbrich. „Es macht keinen Sinn, wenn jeder sein eigenes System
betreibt, das nicht mit anderen kompatibel ist. Schon allein deshalb ist es
wichtig, dass über die ‚Plattform Industrie 4.0‘ auch in dieser Richtung
geforscht wird.“ Und Matthias Thieroff fügt hinzu: „Ebenso wichtig ist eine
Cybersicherheit, die auch ihren Namen verdient. Hier sehen wir noch großen
Entwicklungsbedarf. Denn die Sicherheit ist im Augenblick unser größter
Bremsklotz.“ Mit diesem Problem steht KMW jedoch nicht alleine da: Durch die
Vernetzung ganzer Produktionsprozesse wird die Industrie insgesamt offener und
verwundbarer für Industriespionage und Industriesabotage. „Natürlich können wir
über ad-hoc Vernetzungen arbeiten“, so Thieroff weiter. „Oder wir schotten
unser Netzwerk in kritischen Entwicklungsphasen komplett ab. Doch auch das
bietet keine hundertprozentige Sicherheit.“ Hier ist vorrangig die IT
gefragt: Ihre Aufgabe wird es sein, bestehende und zukünftige Systeme sicher zu
machen. Offen ist auch noch die Frage, wem die ganzen Daten eigentlich gehören,
die bei der Kommunikation von Maschinen, Systemen und Produkten entstehen. Auch
hier wird es deutliche Regeln in Bezug auf Datenschutz und Datensicherheit
geben müssen – da kann die kürzlich von der EU-Kommission angedachte
europäische Cloud-Initiative nur ein erster Schritt sein.
Der Mensch in der Industrie 4.0 als Kunde und als
Mitarbeiter
Und dann wäre da noch
der Faktor Mensch. Als Kunde kann er von Industrie 4.0 flexible Services und
auf ihn zugeschnittene Produkte verlangen: Wie zum Beispiel den selbst
designten Sportschuh, der nach seinen Vorstellungen zwar individuell für ihn,
aber immer noch industriell gefertigt wird. Als Mitarbeiter einer Industrie
4.0-Umgebung erwarten ihn Entlastung und Herausforderung zugleich:
Routinearbeiten werden weniger, Organisationstätigkeiten werden
anspruchsvoller. Für den Bereich Anlagenbau erklärt der KMWler Wolfgang
Olbrich, was Industrie 4.0 für seine Mitarbeiter bedeutet: „Industrie 4.0 heißt
für uns, dass wir in der Lage sein müssen, nicht nur industrielle Prozesse zu
formen, sondern diese auch in digitale Systeme zu übertragen. Dazu braucht man
gut ausgebildete und kreative Experten. Aber das sind unsere Mitarbeiter
bereits heute schon. Sie können über den Tellerrand hinaus- und bis in die
letzte Schraube hineinschauen.“ „Dennoch“, ergänzt Matthias Thieroff, „werden
wir im Hinblick auf Industrie 4.0 auch unseren Arbeitsstil weiter entwickeln
müssen und noch vernetzter arbeiten als bisher.“
Durch
Industrie 4.0 werden Mensch, Technik und Organisation zu einer Art Ökosystem
vernetzt. „Wir sehen die Potenziale“, so Wolfgang Olbrich, „und wenn wir die
Risiken, z.B. in Sachen Sicherheit nicht aus den Augen verlieren, und den
Menschen bei all unserer Begeisterung für die Technik nicht vergessen, dann
können wir Teil von einer sehr spannenden Entwicklung sein.“
Volkswirtschaftliches Potenzial für Deutschland. Studie. Berlin 2014. https://www.bitkom.org/files/documents/Studie_Industrie_4.0.pdf
den Maschinenbau der Zukunft. In: Sonderveröffentlichung der AD HOC Gesellschaft
für Public Relations mbH; Bitkom e.V.; VDMA e.V.; ZVEI e.V.: Zukunftsstrategie 4.0. Wie das Internet die
Industrieproduktion revolutioniert. Gütersloh 2013.